Eine Lebensgeschichte über den jahrelangen schweren Weg eines jungen Menschen im Labyrinth von Angst – Flucht und Vertreibung – Hilflosigkeit – Fremdheit – Misstrauen – Zuständigkeitswirrwarr – Bürokratieaufwand, aber auch über positive Erfahrungen, Wegbegleiter, kleine Erfolgsschritte und seine Hoffnung auf eine gute Zukunft.
Ein über viele Jahre kirchlich, sozial und gesellschaftspolitisch Engagierter trifft unbegleiteten minderjährigen Flüchtling – und gemeinsam meistern sie die Herausforderungen des „neuen“ Lebensalltags und bauen an einer besseren Zukunft….
Arthur Biesalski war im Juni 2017 abends in der Saarbrücker Innenstadt unterwegs. Vor einem großen Kaufhaus-Center sah er ein paar junge Leute im Kreis auf dem Boden sitzen. Kerzen brannten und zwei Polizisten standen daneben. Eine Demo? „Was macht denn ihr da?“ hat er gefragt. „Wir reden miteinander,“ antwortete einer. Arthur Biesalski war vielleicht der einzige, der stehen blieb. Er erfuhr: Einer der Jungen sei erst 15 Jahre alt und ohne Papiere. Er sei seit wenigen Wochen in der zentralen Aufnahmestelle des Saarlandes in Lebach – dem heutigen AnkERzentrum – als Asylsuchender untergebracht. Voller Angst und Unsicherheit mit Erwachsenen und für ihn Fremden.
Nach einem vorherigen Vorcleaningverfahren zur Altersfeststellung am 15.02.2017 wurde nur ein Tag später sein Geburtsdatum fiktiv auf den 16.02.1999 festgelegt und damit eine Volljährigkeit vorausgesetzt, allerdings mit dem Hinweis, dass eine Volljährigkeit nicht mit Sicherheit festgestellt werden kann.
Hinweis: Diese umstrittene Altersfestlegung ergibt eine Differenz von fast drei Jahren gegenüber seinem realen, inzwischen auch vom Familiengericht beim Amtsgericht Saarlouis anerkannten Geburtsdatum: 20.01.2002. Damit wurde eine mögliche Anerkennung als unbegleiteter Minderjährigen für ihn aber nicht möglich.
Arthur Biesalski, heute 76 Jahre alt, seit vielen Jahren engagiert in KAB, Kirche, Caritas, CDA/CDU, Gewerkschaft ver.di und sozialen Netzwerken sagt über den ersten Kontakt mit Alireza: „eine zufällige Begegnung, - aber dann meldete sich eine ‚innere Stimme‘, ich versprach, mal bei der Saarbrücker Caritas nachzufragen, was man tun könnte“.
Man kann vieles tun. Biesalski lebte das ‚Wir schaffen das‘ – Motto von Angela Merkel schon zuvor im Engagement für Flüchtlingsfamilien, junge Syrer, verfolgte Christen in Syrien. Er ist Mitglied im Saarländischen Flüchtlingsrat.
Hinzu kommt nun seit 2017 sein Engagement für Alireza REZAIE, so heißt der damals 15- und heute 18-jährige, im Iran aufgewachsene Junge mit afghanischen Eltern. Sein Vater ist verschollen im Kriegsgebiet, der jüngere Bruder entführt und verschwunden im Iran.
Er wurde nach seinen Angaben dort von Verfolgern vom Fahrrad gerissen und mit einem Messer schwer verletzt. Er wurde von der Mutter mit dem letzten Geld gemeinsam mit dem älteren Bruder Schleusern anvertraut. Auf dem gefährlichen Fluchtweg durch fünf Länder, zuletzt von Dänemark kommend nach Schleswig-Holstein und dann im Saarland gelandet, - allein – den älteren Bruder verschlug es nach Frankreich.
Arthur Biesalski erinnert sich: „Alireza war anfangs sehr verängstigt und traumatisiert. Die Sprachverständigung war schwierig. Aber mit der Zeit hat er Vertrauen gefasst und sich positiv entwickelt.“
Auf dem bis jetzt nicht leichten Weg hat er ihn begleitet zu Beratungsstellen und Sozialarbeitern z.B. des Caritasverbandes, zu Verwaltungen und Behörden, Rechtsanwalt, Gerichte, Schulen, Praktikumsstellen, Ärzten; hat telefoniert, geschrieben, Anträge ausgefüllt, geredet und wenn notwendig auch gestritten. Ein wenig grinsend meint er: „ehrenamtlicher Betreuer ist fast wie eine neue Berufstätigkeit.
So unterstützt, konnte Alireza eine Berufsgrundschule besuchen und dabei den Hauptschulabschluss machen. „Er ist meist einer der Besten, kein Streber, er hilft auch anderen in der Klasse.“
Arthur Biesalski hat vorwiegend bei Deutsch und Sozialkunde geholfen – „Von Mathe und Technik heute verstehe ich zu wenig.“
Alireza hat den mittleren Bildungsabschluss am Technisch-Gewerblichen Berufsbildungszentrum Saarbrücken erfolgreich geschafft und nun die Zusage zur Aufnahme in die Fachoberschule für den Fachbereich Technische Informatik ab August dieses Jahres erhalten.
Seit Wochen ist er mit Arthur Biesalski auf intensiver Suche nach einem geeigneten Praktikumsplatz, hat bisher nur eine positive Antwort erhalten. Er hat die Möglichkeit sich nun eine kleine, preiswerte Wohnung zu suchen; dies gestaltet sich aber als ein sehr schwieriges Vorhaben im Raum Saarbrücken.
Welche Talente hat Alireza? Arthur Biesalski sagt: „Er ist sehr lernwillig und zielstrebig, verlässlich und erwartet dies auch von anderen. Seine gute Art und Kommunikationsfähigkeit kommt an bei den Menschen, er ist freundlich und interessiert.“ Das ist gut, denn am Wochenende und zweitweise auch in den Schulferien lebt Alireza bei seinem „Betreuer“ – Gästezimmer steht zur Verfügung.
Unter der Woche hat er zurzeit einen Platz in einer Jugendhilfeeinrichtung/Wohngruppe bei Saarbrücken – allerdings als einziger Volljähriger mit jüngeren Mitbewohnern. Durch diese Maßnahme des Kreisjugendamtes Saarlouis besteht nun mehr keine Wohnsitzpflicht im AnkERzentrum Lebach.
Arthur Biesalski teilt sich mit ihm auch freie Zeit, ermöglicht ihm in der Stadtbibliothek zu lernen und Bücher auszuleihen, sowie Kurse bei der VHS Saarbrücken und den Deutch-Ausländischen Jugendclub zu besuchen. Für Alireza ist auch ein Fitness-Training wichtig. Sie gehen spazieren im Gebiet der nahe gelegenen deutsch-französischen Grenze.
Sie reden über Religion, Geschichte, Politik und aktuelle Nachrichten.
Arthur Biesalski nimmt aktiv am Gemeindeleben seiner Pfarrgemeinde St. Jakob/Heilig Kreuz in Alt-Saarbrücken teil. Alireza ist Muslime, hält sich an die tägliche Gebetszeit sowie an die Regeln im Fastenmonat Ramadan. Sie fahren auf den Verkehrsübungsplatz, weil Alireza ja mal seinen Führerschein machen will. Und sie besprechen vieles miteinander von Fragen und Problemen beim Asylverfahren bis zur sozialen und schulischen Integration sowie über seine Zukunftsaussichten.
Alireza strebt das Fachabitur an und will Informatik studieren. So richtete er für Arthur Biesalski mit seinem Tablet den Arbeitsplatz für eine Video-Konferenz der KAB zur Krankenhaus- und Pflegepolitik im Saarland ein, damit sein „Betreuer“ daran teilnehmen konnte. Er bereitet gerne kulturell vielfältige und exotische Mahlzeiten zu, trifft sich oft mit Freunden und Bekannten. Er kommuniziert häufig mit seinem Smartphone, so auch mit seinem Bruder in Metz und ab und an auch mit seiner in ärmlichen Verhältnissen lebenden Mutter im Iran.
Warum macht Arthur Biesalski das? Er versteht sich als „politischer“ Christ, der den diakonischen Dienst in Verbindung mit der kirchlichen Sozial- und Gesellschaftslehre als Auftrag für unser Sehen – Urteilen – Handeln als Christen in der ‚Welt von heute’ betont.
Diese Motivation ist Grundlage für das konkrete Engagement im ‚Kampf‘ für gerechte, solidarische und menschenwürdige Lebensbedingungen für Menschen, welche in Armut, Not, Lebensgefahr, Unterdrückung, Unfreiheit, Ausbeutung leben, die Verfolgung erleiden oder auf der Flucht sind.
Hier vertritt Arthur Biesalski seine Position: „Die Haltung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge als ‚Vertretung‘ der Innenministerien von Bund und Ländern sowie die praktizierte Rechtsprechung ist zuweilen – nicht nur in diesem Fall – unbarmherzig, realitätsfern, undurchschaubar, überbürokratisch und mit dem bewusst gewollten – Ziel einer abschreckenden Wirkung ausgestattet. Ich sehe ein Widerspruch in Auslegung und praktischer Anwendung zu den im Grundgesetz verankerten Grundrechten – Artikel 1 (1-3) und Artikel 16a, welche die gemeinsamen Grundwerte unseres demokratischen und sozialen Rechtsstaates ausdrücken.
Wenn z.B. das BAMF die mit viel Mühe, Aufwand und Kosten aus Afghanistan beschaffte Abstammungsurkunde (s. Mitwirkungspflicht des Klägers beim Asylverfahren) für echt hält, das in der Tazkira dokumentierte Geburtsdatum aber nicht anerkannt wird, ist dies nicht nachzuvollziehen.“
Die den Asylantrag ablehnende Urteilsbegründung – einschließlich des Sitzungsprotokolls der Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht des Saarlandes im Februar 2020 [insgesamt 27 Seiten] verstärken diese kritische Beurteilung. Kaum ein Flüchtling hat doch alle erforderlichen Dokumente wohl geordnet auf seinem risikoreichen Fluchtweg im Gepäck. So hat der Fall „Alireza“ nicht nur meinen Terminkalender zusätzlich gefüllt, sondern auch zwei DIN-A-4-Ordner.
Eine neue Verunsicherung ist nun als Folge des abgelehnten Antrags auf Asyl mit der im Juli ausgehändigten ‚Duldung‘ – Aussetzung der Abschiebung – der Zentralen Ausländerbehörde entstanden. In diesem Dokument steht klar: „Kein Aufenthaltstitel! Der Inhaber ist ausreisepflichtig! Die Duldung erlischt ungeachtet der Gültigkeitsdauer am Tag der Abschiebung.“
Eine positive Nachricht ist, dass nun nach fast dreieinhalb Jahren sein „richtiges Geburtsdatum“ anerkannt und im genannten Dokument enthalten ist.
Als Mitglied des Saarländischen Flüchtlingsrates fordert Arthur Biesalski: „Das breite, soziale, gesellschaftliche und auch kritische ehrenamtliche Engagement in unserem Land und die immer noch von vielen Bürgern aktiv unterstützte Kultur der Hilfsbereitschaft darf nicht politisch und administrativ erschwert oder als “Gut-Mensch-Tun“ abgewertet werden.“